Biosensor

Früher habe ich gerne die Fernsehserie MacGyver angesehen. Der Geheimagent, dessen Vorname in der fünften Staffel erstmals genannt wurde, verzichtet im Gegensatz zu James Bond auf die Verwendung von Schusswaffen. Dafür stellt er seine Gegner mit allerlei unterhaltsam zusammengebastelten Vorrichtungen ruhig. Als ich vor über zehn Jahren in meinen Vorträgen noch WLAN-Richtfunkantennen aus Pringles-Chips-Dosen und Beilagscheiben gebastelt habe, kam der Vergleich öfters. Allerdings verbinde ich die Basteleien des Angus MacGyver weniger mit einer Chipsdose, sondern viel eher mit der Feder eines Kugelschreiber. Und eine solche Metallfeder sollte man nicht unterschätzen.

In Polen schützen gerade mal acht solcher Federn die Gesundheit und das Leben von ca 8 Millionen Menschen. Das gleiche gilt für die Bewohner von Minneapolis in den USA, wo zwölf Federn im Einsatz sind. Zugegeben, es sind nicht nur Kugelschreiberfedern – sondern auch noch ein Tropfen Heißkleber, ein Magnet am Ende der Feder und … eine Muschel.

Screenshot aus „Fat Kathy“ von Julia Pelka

Die jungen Muscheln werden dazu aus ihrem natürlichen Lebensraum entnommen und über einen Zeitraum von zwei Wochen an das Trinkwasser Warschaus aus dem Fluß Wisła  akklimatisiert. Dann kommt der Tropfen Heisskleber auf die Oberseite der Muschel. Dann die MacGyver-Gedächtnis-Kugelschreiber-Feder, an der vorne der kleine Magnet angebracht ist.

Die „Großen Flussmuscheln“ (Unio tumidus) reagieren sehr sensitiv auf Verschmutzungen und Toxine im Wasser. Ist es frisch und klar, sind die Muschelschalen geöffnet, bei Schmutz oder chemischen Verunreinigungen schließen sie sofort ihre Schalen – und lösen damit über den Magnet am Ende der Feder einen Impuls in einem Sensor aus, was zu einen Warnhinweis im Kontrollzentrum des Wasserwerkes führt. Die Muscheln arbeiten dabei so zuverlässig, dass die gesamte Wasserzufuhr für Millionen Menschen automatisch abgeriegelt wird, wenn die Schalentiere Alarm schlagen.

Das Schöne an der ganzen Geschichte ist aber nicht nur die Idee, dass Biologie statt Chemie und Lebewesen statt Technik eingesetzt werden. Es ist die Wertschätzung, die der Malakologe Piotr Domek den Muscheln, seinen “Mitarbeitern”, entgegenbringt. Nachdem sie etwa drei Monate lang 24 Stunden, 7 Tage die Woche als Biosensor im Einsatz waren, werden die Muscheln nämlich nicht einfach entsorgt. Domek bringt die Muscheln wieder dorthin zurück, wo er sie gefunden hat. Er markiert sie zudem, damit sie nicht zufällig erneut gefischt und ein zweites Mal als Arbeitskraft herangezogen werden – und dann genießen sie ihr Leben als Rentner. Und das kann ziemlich lange sein. Flussmuscheln werden bis zu 50 Jahre alt. Das ist doppelt so lange, wie es CD-ROM-Laufwerke gab.


Bildnachweis und weiterführende Links:

Beide Bilder mit freundlicher Genehmigung der Autorin sind Screenshots aus dem Kurzfilm „Fat Kathy“ von Julia Pelka. Ein bemerkenswert ruhiger und wirklich sehenswerter Dokumentarfilm mit einer Länge von gerade einmal 13 Minuten. https://www.juliapelka.com/fatkathy

Hier ist ein Artikel zu finden, der sehr viel mehr Details enthält. Und bei BoredPanda gibt es einen Artikel, der auch den Einsatz der Muscheln in Minneapolis erklärt.

 

2 Kommentare zu “Biosensor

  1. Solche Biosensoren gab es auch in Bergwerken: da hat man Kanarienvögel mit in den Berg genommen. Die empfindlichen Vögel haben durch ihr Verstummen lebensgefährliche Gase angezeigt und so einen Evakuierungs-Alarm für die Bergleute ausgelöst.

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