Über den Wolken

Wind Nord-Ost, Startbahn null-drei. Bis hier hör ich die Motoren. Wie ein Pfeil zieht sie vorbei. Und es dröhnt in meinen Ohren. Und der nasse Asphalt bebt. Wie ein Schleier staubt der Regen. Bis sie abhebt und sie schwebt. Der Sonne entgegen.

Früher war Fliegen noch mit Begriffen wie Sehnsucht, Fernweh oder Urlaub in exotischen Ländern verknüpft. Wie sanftmütig, ja fast zärtlich, startet der Flieger in der berühmten Ballade von Reinhard Mey. Selbst das Dröhnen der Motoren wirkt mit der Melodie im Kopf eher wie das Säuseln einer Hummel auf einer Frühlingswiese.

Ganz anders heute. Junge Menschen kleben sich mittlerweile verzweifelt auf Startbahnen fest oder radeln auf dieser umher und zwingen Flugzeuge im Landeanflug zum Durchstarten. Und tatsächlich: fast wie ein Presslufthammer hämmert einem das schlechte Gewissen immer und immer wieder den CO2-Fußabdruck der nächsten dienstlichen, innerdeutschen Flugreise ins Gehirn. Bis sie abhebt und sie schwebt. Und schon bald kein Mensch mehr lebt.

Damit zukünftig weniger CO2 erzeugt und auch weniger Sekundenkleber verbraucht wird, hat die Deutsche Post am Donnerstag vor Ostern nun einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet. 62 Jahre lang wurden Briefe innerhalb Deutschlands Nachts mit dem Flugzeug transportiert. Statt Anzug- oder Flip-Flop-Träger lagen auf den Sitzen Postsäcke. In der Business Class genauso wie in der Holzklasse.

Gestartet ist das Nachtluftpostnetz 1961. Teilweise flogen 26 Flieger ganze 45 Städte mit durchschnittlich 430 Tonnen an Rechnungen, Verträgen, Liebesbriefen und Mahnungen im Rumpf an. Am letzten Tag, jetzt, kurz vor Ostern, waren es nur noch 1,5 Millionen Briefe, die auf ein Gesamtgewicht von immerhin noch 53 Tonnen kamen.

Sie werden zukünftig von LKWs transportiert, was – so die Post – den CO2-Fußabdruck gegenüber einem geflogenen Brief um etwa 80% reduziert.

Tatsächlich ist es aber nicht nur das Kohlenstoffdioxid, das die Post zur Beerdigung dieses Stück Postgeschichte veranlasst hat. Es ist auch die Digitalisierung. Die Anzahl an Briefsendungen sinkt kontinuierlich. E-Mail, Messenger und Videokonferenzen haben den Zeitdruck bei der Zustellung vieler Dokumente genommen. Die Menschen kommunizieren einfach anders als vor 60 Jahren.

Trotzdem hat die Einstellung des Nachtluftpostnetzes auch negative Folgen. Einige Briefe, die besonders weit transportiert werden, sind nun länger unterwegs sind. Wer es also eilig hat, sollte zu modernen Kommunikationsmitteln greifen. Insbesondere bei Fristen vor Gericht oder Behörden. Ich bin echt gespannt, ob es dazu mal Statistiken geben wird, aber ich gehe jede Wette ein, dass das Ende der Nachtluftpost dazu führt, dass wir in Deutschland wieder mehr FAXe verschicken.

Blätter hinein, Kurzwahl null-drei. Beim Wählen höre ich das Fiepen. Wie ein Pfeil zieht es sie ein. In die alten FAX-Maschinen. Egal ob Mahnung oder Gruß. Jedes Zeichen wird gelesen. Dann digital noch transportiert. Dem Empfänger entgegen.


 

5 Kommentare zu “Über den Wolken

  1. Als bekennender Reinhard-Mey-Fan muss ich sagen: Der „neue“ Text ist ausnehmend gut und ziemlich realitätsnah.
    Und ich fürchte: Er wird zeitlos bleiben. Zumindest für mich – bis ich „mit 66 Jahren“ unterwegs bin…

      • Perfekt. Und nur, damit keiner verwirrt ist: „Mit 66 Jahren“ ist natürlich NICHT von Reinhard Mey, sondern von Udo Jürgens.
        Was aber letztlich keine Rolle spielt – ab einem gewissen Promillepegel werden Lieder beider Komponisten lauthals zum Besten gegeben…

          • 😎👍🏻
            Dito seinerzeit in der Lanxess-Arena. Einschließlich Mitgröln. 🤪
            War Mega.

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