Schlüsselloch-Gäste

Ich gebe es zu, ich habe Mist verzapft. Jahrelang. Sogar im Fernsehen. Wobei es damals, als ich das erzählte, noch richtig war. Und auch die vielen Male, die ich es danach wiederholte, war ich von der Gültigkeit meiner Aussage überzeugt. Aber die Zeiten ändern sich halt.
Der Blick durchs Schlüsselloch eröffnet den Blick in eine andere Welt, ohne das Tor dort hinein aufzustoßen. Es ist ein Symbol von Heimlichkeit auf der einen und Voyeurismus auf der anderen Seite. Und irgendwie wollen wir alle nur auf der einen Seite der Tür stehen. Wir wollen – wenn überhaupt – nur hineinschauen. Wir wollen nicht das Objekt der Beobachtung sein. Schon gar nicht zu Hause, in den privaten Gemächern. Und erst recht nicht, wenn wir glauben, allein zu sein.
Und genau das nutzen seit vielen Jahren Cyberkriminelle aus, die tausenden Menschen mailen und behaupten, dass man sie durch ein digitales Schlüsselloch beobachtet hätte. Durch die gehackte Webcam nämlich. Das allein reicht oft, dass man beginnt zu überlegen, was man im Blickwinkel der Kamera alles gemacht hat. In den folgenden Sätzen der Mail hilft einem der Hacker auf die Sprünge: Schmuddelseiten habe man angesehen und dann auch noch seiner Erregung nachgegeben. Und von dieser manuellen Tätigkeit – so schreibt der Absender der Mail – wurden Bilder und Videos gemacht. Eben über die Webcam, diesem digitalen Schlüsselloch im Rechner.
Damit die peinlichen Aufnahmen nicht an unsere Freunde und Bekannte geschickt würden, muss man – Überraschung! – bezahlen. Ein paar hundert Euro in Bitcoin, um Stillschweigen zu erkaufen und einen Mantel des Vergessens auszubreiten. Wie ich schon tausendmal irgendwo erzählt habe, sind diese Anschuldigungen blanker Unsinn. Niemand hat die Webcam gehackt, niemand hat heimlich Fotos gemacht. Es wurden nur auf gut Glück viele Mails mit falschen Behauptungen verschickt. Und weil eine große Zahl Menschen »das« halt schon mal gemacht hat, verdienen die Betrüger. Damit habe ich immer alle beruhigt. Bis jetzt.
Vor kurzem veröffentlichte nämlich jemand unter dem Namen witchfindertr ein Computerprogramm, das jeder kostenlos herunterladen kann. Es nennt sich Stealerium und bietet unter anderem genau die Funktionen an, die solche Erpresser benötigen. Stealerium ist in der Lage zu erkennen, wenn der Benutzer eines infizierten PCs erotische Webseiten aufruft, und fertigt dann Screenshots und heimliche Aufnahmen mit der Webcam an. Ab sofort kann daher jeder, der in der Lage ist, ein Computerprogramm zu installieren, bei seinem Partner, bei Freunden oder bei Nachbarn zum Sextortion-Erpresser werden, wie das in der Fachsprache heißt.
Der Autor – witchfindertr – sieht bei sich übrigens keine Schuld, wenn dadurch Menschen leiden und in hochnotpeinlichen Situationen landen. »Dieses Programm dient ausschließlich Bildungszwecken« steht absurderweise groß auf der Startseite der Schadsoftware. Es sei Sache des Nutzers, wie das Programm verwendet wird. Und dann steht da noch: »Und es ist mir scheißegal, wie du es verwendest«.
Nachtrag: github hat das Repository mittlerweile gesperrt.

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